Meinung

Kalte Winter in Europa, oder: Der Plan B der USA

Mit dem langen Krieg, in den die NATO Russland ziehen wollte, wird es wohl eher nichts werden, dafür droht aber die Deindustrialisierung Europas. Es sieht danach aus, als gäbe es doch einen Plan B in den USA; ein Plan, dessen Kern darin besteht, Europa zu opfern.
Kalte Winter in Europa, oder: Der Plan B der USAQuelle: www.globallookpress.com © Werner Otto/face to face

Von Dagmar Henn

Nun hat sich also Emmanuel Macron bei Joe Biden entrüstet gezeigt über das Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act, IRA), das mit seinen Subventionen für Industriebetriebe zusammen mit der Strangulation der westeuropäischen Energieversorgung geradezu wie ein Staubsauger die europäische Industrie aufzusaugen droht. Oder wie die blaue Elise in den Zeichentrickfilmen der 1960er; nur, dass die europäischen Regierungen nicht die List der Ameise aufbringen, die sich erfolgreich dagegen wehrt, in den Rüssel gesogen zu werden.

Man könnte beinahe sagen, dass sich jetzt ein logisches Gesamtpaket ergibt, für das die Sprengung von Nord Stream ein nötiger Bestandteil war. Denn selbst die Subventionen, die der IRA verspricht, würden nicht genügen, um die Vereinigten Staaten erfolgreich zum einzigen Industrieland ihrer Sphäre zu machen; dazu müsste man auch das zugehörige Fachpersonal mitgeliefert bekommen. Das allerdings funktioniert nur, wenn die Lebensbedingungen in Westeuropa so elend werden, dass dieses bereitwillig seine Sachen packt und dem Betrieb hinterherzieht.

Vor einiger Zeit kursierte dieses angebliche RAND-Papier, das genau so eine Strategie zum Thema hatte: eine Rettung der Vereinigten Staaten durch die Deindustrialisierung Europas, das dann zum Abnehmer von US-Produkten werden sollte.

Die inzwischen auch von der französischen wie der deutschen Regierung erwarteten Auswirkungen des IRA passen zu dieser Strategie. Was die Frage aufwirft, welche Ziele die USA beziehungsweise unterschiedliche Fraktionen dort tatsächlich verfolgen. Und in welchem Verhältnis diese Ziele zueinander stehen.

Klar ist, Plan A, der vor allem von den Neocons verfolgt wird, zielt auf die Erhaltung der US-Dominanz. Die Karten dafür waren von vornherein schlecht; unter anderem, weil das Kernstück dieser Pläne, nämlich sich Russland und China getrennt voneinander vornehmen zu können, nie eine realistische Grundlage hatte.

Der indische Blogger Seshadri Kumar hat das sehr deutlich und verständlich formuliert: "In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Russland, allein, diesen Krieg zu verlieren schiene, würde China Russland genug (sowohl wirtschaftliche wie militärische) Unterstützung gewähren, um zu verhindern, dass dies geschieht, denn wenn Russland unter US-Kontrolle käme, wäre China das nächste Ziel. Das würde eine Wiederholung der westlichen Herrschaft über China bedeuten, eine Wiederholung des 'Jahrhunderts der Erniedrigung', über das jeder Chinese in der Schule lernt und entschlossen ist, es um jeden denkbaren Preis zu verhindern. Das ist in das Bewusstsein jedes chinesischen Bürgers eingebrannt."

Die Grenze zwischen Russland und China ist, abgesehen von jener mit der Mongolei, die längste, die China zu einem einzelnen Land hat, und Russland ist der einzige Nachbar, der als Gegner eine echte Bedrohung wäre. Ein US-kontrolliertes Russland wäre für China exakt das, was eine US-dominierte Ukraine für Russland ist.

Inzwischen ist deutlich sichtbar, dass auch die Wünsche der NATO, Russland durch einen langen Krieg in der Ukraine bedeutend zu schwächen, sich nicht realisieren werden, allein, weil die NATO dafür weder das erforderliche Personal noch die erforderlichen Waffen besitzt. Für diese Strategie ist der Umgang mit der europäischen Industrie, der sich augenblicklich zeigt, sogar kontraproduktiv – die höheren Energiekosten wie auch die Tendenz zur Abwanderung treffen auch den militärisch-industriellen Komplex Europas. Aber selbst wenn diese Pläne aus US-Sicht erfolgreich wären, hätte eine solche Verlagerung einen längeren Einbruch der Produktion zur Folge, und das in einer Situation, in der schon die augenblickliche Produktion nicht genügt. Gerade für deutsche Betriebe aus diesem Sektor wären die IRA-Gelder besonders verlockend, weil die meisten von ihnen eine gemischt zivil-militärische Produktion aufweisen; aber selbst bei Mitnahme größerer Teile der Belegschaft wären sie monatelang nicht oder nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig.

Die Bemühungen, Industrie aus Europa in die USA zu locken, stehen also den Absichten, in der Ukraine einen langen Krieg zu führen, direkt entgegen. Das wirft die Frage auf, ob dieses Ziel in den USA tatsächlich noch dominant ist. Denn mittlerweile ist auch dort sichtbar geworden, dass ohne die entsprechende Produktion kein Krieg zu führen ist, und dass daran auch die Bereitschaft, noch den letzten Ukrainer zu verheizen, nichts ändert.

Nachdem die Vereinigten Staaten sich inzwischen bis nach Südkorea bemühen, um noch ein paar Granaten aufzutreiben – die Ukraine soll angeblich noch 2.000 pro Tag verschießen können, im Verhältnis zu 50.000 bis 60.000 von russischer Seite, aber auch bei diesem geringen Verbrauch reicht die gesamte südkoreanische Lieferung, so sie denn überhaupt eintrifft, nur 60 Tage –, dürfte mittlerweile selbst den Neocons klar sein, dass die ukrainische Front nicht mehr lange gehalten werden kann. Da schon alles zusammengekratzt wurde, was die NATO aufzubieten hat, bliebe, abgesehen von den üblichen Umsturzmanövern, nur noch die maximale Eskalation bis hin zu einer nuklearen Auseinandersetzung, um Plan A weiter zu verfolgen.

Aber anscheinend gibt es einen Plan B, dessen Entfaltung wir gerade verfolgen können – der, wie es das vermeintliche RAND-Papier andeutete, den Verlust der Vormachtstellung einbezieht und davon ausgeht, dass es den USA nur noch gelingt, die Kontrolle über einen kleinen Bereich, nämlich die westlichen Kernländer, zu halten. Innerhalb dieses Plans B dient der Konflikt in der Ukraine vor allem dazu, die Westeuropäer so weit wie möglich von Russland zu entfernen, um damit die Energieversorgung abzuschneiden und dann die ehemaligen Industrieländer in willige Absatzmärkte für US-amerikanische Produkte zu verwandeln.

Es ist fraglich, ob diese Strategie überhaupt aufgehen kann, weil mit der Industrie auch die Einkommen in Europa einbrächen, sich der angestrebte Absatzmarkt im gleichen Maße verkleinerte und dazu auch noch sowohl in Europa als auch in den USA die Renteneinnahmen aus dem Rest der Welt, der dann abgetrennt wäre, verflüchtigten. Die Fortsetzung der Sanktionsstrategie, ihre Erweiterung auf China, liefe letztendlich auf genau eine solche Trennung hinaus; zwei völlig voneinander abgekoppelte Produktions-, Handels- und Währungssphären, deren eine das Modell der multipolaren Welt mit Beziehungen zwischen Gleichen realisieren, wohingegen die andere sich in eine Art Neoabsolutismus mit einem Washingtoner Sonnenkönig verwandeln würde.

Während die Verfechter von Plan A darauf gesetzt hätten, mithilfe der Sanktionen tatsächlich einen ökonomischen Blitzkrieg gegen Russland zu führen, hätten die Verfechter von Plan B mit den Sanktionen genau auf das jetzige Ergebnis abgezielt; allerdings sind sie vermutlich davon ausgegangen, dass den USA am Ende eine weit größere Sphäre verbliebe. Schließlich sollten durch die Spekulation mit Nahrungs- und Energiepreisen und die Zinserhöhungen in den USA zusammen mit den Vorgaben des "Klimaschutzes" die alten kolonialen Ketten wieder erneuert werden. Bisher zeigten diese Bemühungen aber eher gegenteilige Wirkung; tatsächlich erweist sich der Konflikt in der Ukraine als Katalysator, der die zuvor langsame Bewegung hin zu den BRICS und einer neuen Struktur globaler ökonomischer Beziehungen enorm beschleunigt hat.

Das könnte den Anschlag auf Nord Stream erklären, der im Zusammenhang von Plan A nicht wirklich Sinn ergibt – aus Erdgas gewinnt man Ammoniak, Ammoniak wird nicht nur bei der Herstellung von Kunstdünger, sondern auch bei der Herstellung von Sprengstoff benötigt, der wiederum unverzichtbar ist, so man denn wirklich die Rüstungsproduktion so weit erhöhen will, dass man den Mengen russischer Granaten etwas entgegenzusetzen hätte. Verträge für den militärisch-industriellen Komplex abzustauben und einen möglichst großen Brocken aus dem Staatshaushalt in dessen Kassen umzuleiten ist das eine, aber wie die Praxis beweist, sorgt das noch lange nicht dafür, dass man damit auch etwas anfangen kann (wie beispielsweise dieses hübsche Video einer F-35 belegt), geschweige denn, dass Menge und Qualität in einer Auseinandersetzung mit einem mindestens gleichstarken Gegner von Nutzen sind. In letzter Zeit wird zwar immer noch Geld in das schwarze Loch namens Ukraine geworfen, aber Verträge über Waffen, die erst in zwei, drei Jahren hergestellt sind, sind, das legt die Lage in der Ukraine, nur noch Geschenke an die Rüstungsfirmen ohne praktischen Nutzen.

Der Augenblick der Sprengung von Nord Stream wäre dann der Moment, an dem sich die Erkenntnis durchgesetzt hätte, dass der Kampf in der Ukraine verloren ist, und die Verfechter von Plan B die Oberhand gewonnen hätten, der es erforderlich macht, die europäische Industrie auszuhungern. Das könnte auch die weitere Verschärfung der antirussischen Rhetorik erklären. Denn bezogen auf die Ukraine ergibt sie keinen Sinn, weil sie in der Konfrontation mit Russland keinen zusätzlichen Nutzen bringt und eine unmittelbare militärische Beteiligung zwar den Verfechtern von Plan A gelegen käme, aber ebenfalls die Voraussetzung entsprechender Produktion hätte. Der einzige Zweck, dem Entwicklungen wie die Entschließung des Europaparlaments oder jetzt der Bundestagsbeschluss zum "Holodomor" dienen können, ist, sicherzustellen, dass auch nach einer Niederlage in der Ukraine und demzufolge einem Ende des Krieges der Bruch zwischen den EU-Ländern und Russland erhalten bleibt. Es sind letztlich also nicht nur die Sanktionen, sondern auch diese propagandistisch überdrehten Beschlüsse, die sich gegen Russland zu richten scheinen, aber die europäischen Industrieländer zum Ziel haben.

Dabei dienen diese politischen Handlungen dazu, das gesamte politische Personal gewissermaßen in Geiselhaft zu nehmen. Denn Plan B braucht Zeit, um zu wirken; eine absehbare ukrainische Niederlage ließe spätestens nach einigen Monaten die Versuchung entstehen, doch auf Grundlage der neuen Realitäten irgendwie eine Zukunft für die Länder der EU zu sichern, also einen Weg zu suchen, Beziehungen zu Russland wiederherzustellen. Je mehr Beschlüsse in der Art des "Holodomor"-Beschlusses gefällt werden, desto schwerer wird es, einen entsprechenden Wunsch überhaupt in die politische Debatte zu bringen, und desto enger ist das persönliche politische Schicksal der Handelnden mit der Fortsetzung des jetzigen Kurses verknüpft; sie können ihn nicht ändern, ohne zugleich ihre Karriere zu beenden, selbst wenn sie begreifen, dass sie damit ihren eigenen Ländern den größtmöglichen Schaden zufügen.

Solange die beiden Nord-Stream-Pipelines funktionsfähig waren, bestand prinzipiell die Möglichkeit, sie jederzeit wieder zu öffnen und damit die Deindustrialisierung aufzuhalten. Jetzt käme nach einem Ende des ukrainischen Dramas zu der Zeit, die benötigt wird, bis wieder genug Vernunft einkehrt, um die Beziehungen normalisieren zu wollen, noch die Zeit hinzu, die Röhren wiederherzustellen. Sofern es in Westeuropa zu keinen abrupten politischen Umschwüngen kommt, ist die weitere propagandistische Verschärfung zumindest noch für weitere Monate gut, vielleicht sogar für Jahre. Damit wäre jede Option genommen, den Verschrottungsplan aufzuhalten.

Wenn man das Problem mit berücksichtigt, dass idealerweise die Produktionsstätten samt eines Teils des Personals umziehen sollten, wäre sogar eine weitere größere Fluchtbewegung aus der Ukraine insbesondere nach Deutschland diesen Plänen dienlich. Denn je bedrängender die Lage dort ist, desto größer die Bereitschaft, ins neue Domizil zu folgen. Vor allem, wenn nach einer Niederlage die Überreste der ganzen ideologischen Einheiten "heim ins Reich" strömen, samt Waffen, Morderfahrung und brauner Gesinnung, und sich sehr schnell daranmachen dürften, sämtliche illegalen Erwerbsarten zu übernehmen.

Nun, Plan A ist öffentlich geäußert, seine Verfechter sind bekannt, und es ist ebenfalls sichtbar, dass er weitgehend gescheitert ist, sofern seine Vertreter nicht doch noch das Risiko einer globalen Vernichtung eingehen wollen. Plan B ist eine Vermutung, die sich auf die Entwicklung der letzten Monate stützt, eine Annahme, für die es Indizien, aber keine Beweise gibt. Für den größeren Teil der Welt wäre ein Übergang von Plan A zu Plan B die Abwendung einer großen Gefahr und das praktische Eingeständnis einer US-amerikanischen Niederlage; für Deutschland und Europa ist es allerdings der Schritt vom Regen in die Traufe. Denn während sich die USA mithilfe der abgezogenen Industrie stabilisieren könnten, wenn auch unter großen Verlusten, wäre Europa auf absehbare Zeit eine verarmte, politisch irrelevante Wüstenei.

Das Schlimmste daran ist, dass das für den Rest der Welt von Vorteil wäre, denn eine völlige wirtschaftliche und politische Destabilisierung der Vereinigten Staaten wäre weitaus gefährlicher. Um dies zu verhindern, müsste aber zumindest ein Teil der Einnahmen, die bisher als Kolonialrente fließen, durch reale Produktion ersetzt werden. Aber die Vorstellung, damit vielleicht zum Überleben der Menschheit beizutragen, wird in den hungrigen und kalten europäischen Wintern der Zukunft auch nicht wärmen.

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