Mutmaßlicher Drohnentod eines Vierjährigen in der Ostukraine: Für EU-"Faktenchecker" Fake News
von Wladislaw Sankin
Eine schreckliche Tragödie ereignete sich im Dorf Alexandrowskaja am 2. April auf dem Territorium der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk in der Ostukraine: Der vierjährige Wladik Dmitriew ist bei Explosion eines Sprengsatzes mitten im Hof eines Einfamilienhauses getötet worden. Der Körper des Jungen sei buchstäblich in Stücke gerissen worden, erzählte später seine Großmutter, die in diesem Moment am Gehen, aber noch im Haus war.
Die Donezker Behörden brachten erst am nächsten Tag die Meldung über den Tod des Jungen heraus. Sie warfen den ukrainischen Streitkräften den Einsatz einer Drohne vor, die den Sprengsatz auf das Grundstuck abgeworfen haben soll. Nun sind weitere Details aus den vorläufigen Untersuchungen bekannt geworden.
"Wir befragten die Nachbarn und Personen, die in diesem Moment draußen waren. Wir können bereits mit Sicherheit sagen, dass sie das Geräusch eines unbemannten Flugapparates gehört haben", sagte Wiktor Gawrilow, Stellvertretender Chefermittler der Staatsanwaltschaft der selbst ernannten Volksrepublik Donezk, dem russischen Fernsehsender Rossija 1 am Sonntag. Bei der Beerdigung war eine Frau zu sehen, die vor laufender Kamera sagte, dass eine Drohne den Sprengsatz auf den Jungen abgeworfen haben soll.
Auch der Vater des Jungen erzählt mit Verweis auf die Dorfnachbarn, die an diesem warmen Tag draußen waren, dass diese das Surren einer Drohne gehört haben sollen. "Die Freundinnen (meiner Mutter), die im Dorf höher auf der Straße wohnen, sind gekommen ... Sie waren zu dieser Zeit irgendwo im Gemüsegarten. Sie hörten das Geräusch der Drohne. Das haben sie Mutter gesagt. Aber sie haben es nicht gesehen. Das ist es, was ich jetzt weiß", sagte er laut dem Nachrichtenportal strana.ua einer Journalistin am Telefon. Er schildert weitere Details der Tragödie.
"Er (Wladik) rannte mit Spielzeug in den Händen auf die Straße, und Oma blieb stehen, um das Telefon zu überprüfen. Denn die Zeit für meinen Anruf war gekommen. Ich rufe immer zur selben Zeit an. Sie blieb für einen kurzen Moment stehen. (...) Es ist eine Sache von Sekunden. Sie öffnete die Tür. Explosion. Nebel. Das war's. Danach erinnert sie sich an nichts mehr."
Die Behörden der selbst ernannten Volksrepublik machen den Kommandeur der 59. motorisierten Infanteriebrigade der ukrainischen Streitkräfte Gennadi Schapowalow für den Tod des Jungen verantwortlich. Der Oberhaupt der Republik Denis Puschilin gab im russischen Fernsehen die vorläufigen Ermittlungsergebnisse bekannt, wonach der Vierjährige infolge eines Drohnenangriffes starb. Die Drohne habe einen unbestimmten Sprengsatz in einem Wohngebiet abgeworfen. Das Verbrechen sei als Terrorakt der Ukraine einzustufen.
Der Reporter des russischen Senders sprach auch mit dem Donezker Rechtsanwalt Witali Galachow, der sich um Dokumentierung der Verbrechen an der Zivilbevölkerung im ukrainischen Bürgerkrieg kümmert. Die Unterlagen reicht er bei dem internationalen Strafgericht in Den Haag ein. Auf seinem Bildschirm ist der Tatort mit dem aufgefundenen Leichnam des Jungen genau aufgezeichnet. Laut dem Plan lag er drei Meter vom Explosionskrater entfernt. "Nach unseren Berechnungen fiel der Sprengsatz auf den Boden in einem Winkel von 70 bis 80 Grad, was charakteristisch für einen Flugbahnschuss oder ein Herunterfallen von oben ist", sagte er. Ermittler Gawrilow zeigte im Bericht Metallsplitter, die dem Körper des Jungen entnommen worden waren – sechs Stück von der Größe einer Fünf-Cent-Münze.
Die Beobachtermission der OSZE (SMM) inspizierte den Tatort am 7. April und sprach mit den Eltern des Opfers. Der tödliche Vorfall sei in einer Entfernung von 14 Kilometer von der Kontaktlinie und 41 Kilometer nordöstlich von Donezk geschehen, schrieb die SMM in ihrem Bericht vom 8. April. Laut dem von den Eltern gezeigten ärztlichen Attest ist der kleine Wladik aufgrund eines Explosionstraumas und mehrerer Schrapnellwunden gestorben. Ermittlungen gehören nicht zum Aufgabengebiet der Beobachtermission. Deshalb konnte sie auch die Ursache der Explosion nicht feststellen.
"Die SMM konnte die Art der Kampfmittel, die den Krater verursacht haben, nicht beurteilen. Sie bewertete alle oben erwähnten Schäden als neu und wahrscheinlich durch Schrapnell verursacht."
Diese Angaben widersprechen den bereits bekannten Erkenntnissen der Behörden in Donezk nicht. Die Schäden sind im Bericht des russischen Fernsehens gut zu sehen. Die von der Explosion leicht verwundete Großmutter des Jungen legt die Hand in den Krater und zeigt Beulen auf dem Asphalt – sie gehen kranzartig von der Explosionsstelle weg. Sie zeigt auch einen Stützbalken mit Blutresten des Jungen. Ein Reporter macht die 66-Jährige auf die ukrainische Version der Tragödie aufmerksam. Dieser zufolge habe Wladik mit einer von seinen Angehörigen aufgesammelten Munition gespielt. Damit sei sein Tod ein selbst verschuldeter Unfall gewesen. Laut dem Reporter war die Frau von solchen Vermutungen "schockiert". Sie erklärt:
"Im Frühling 2015 gingen die Kampfhandlungen zu Ende. Ich bin eine Pilzsammlerin, und damit ist alles gesagt. Hätte ich hier etwas gefunden, verstehen Sie ... Aber wir haben nichts gefunden!"
Am nächsten Tag nach der ersten Meldung über die Tragödie äußerten zahlreiche ukrainische Medien Zweifel am Tod des Jungen und warfen Russland und der Volksrepublik Donezk Fake News vor. Für den Fall, dass der Junge tatsächlich "im okkupierten Gebiet" gestorben sein sollte, brachten sie einen anderen Tathergang ins Spiel. Der Urheber der ukrainischen Nachrichten war ein Artikel der "Faktenfinder"-Vereinigung "StopFake": "Fake: Durch einen ukrainischen Drohnenangriff starb ein Kind im Donbass" (die deutsche Version ist hier zu finden).
Bemerkenswert: StopFake gehört zum größeren Netzwerk des Auswärtigen Dienstes der EU. "Einige Experten mit viel Erfahrung stammen aus der Ukraine: die Organisation StopFake. Die Ukrainer melden, wie die anderen auch, ihre Erkenntnisse nach Brüssel", schrieb die Zeit über die "EU-Abwehrabteilung" gegen Kreml-Desinformation East StratCom Task Force mit dem Portal EUversDisifo und ihre Partner. StopFake wurde seit seiner Gründung im März 2014 schon von der britischen und tschechischen Regierung, dem US-Thinktank National Endowment für Democracy, einer ukrainischen Soros-Stiftung und weiteren westlichen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen finanziert.
Seine alternative Version könnte man "Munitionstheorie" nennen. Die Beweisführung von StopFake basiert auf der Meldung einer Nutzerin des sozialen Netzwerkes VKontakte aus einer größeren Nachbarstadt. In einem kurzen Kommentar behauptete diese, dass der Junge eine Landmine in der Garage fand. "Ich verstehe nicht, warum die Leute lügen", schrieb sie. Ihr Zitat war als Screenshot von einer anderen Nutzerin in einem Forum der Donezker Volksmiliz gepostet.
Als weiteren "Beweis" fügte StopFake die Behauptung eines anonymen Anwohners aus demselben Dorf ein. Ihm zufolge hat der von ihm nicht näher genannte "Besitzer des Grundstücks" allerlei Gerümpel im Haus gelagert, darunter Munition. Sie habe dann in seinem Haus detoniert. Einen Drohnenangriff schloss der anonyme "Zeuge" aus: "Wie mir meine Freunde erzählten, gab es kein 'pfeifendes' Geräusch: Normalerweise 'pfeift' eine Granate, wenn sie fliegt. Und dieses Mal gab es nichts, nur eine Explosion – und das Kind wurde getötet."
Diese Version hat einer der offiziellen Unterhändler der Ukraine in der trilateralen Kontaktgruppe für die Donbass-Regulierung Denis Kasanski ohne Wenn und Aber übernommen. Selbstbewusst schrieb er auf seinem Facebook-Account:
"Aber den Kriegern der russischen Welt fiel nichts Besseres ein, als diesen tragischen Vorfall zu nutzen, um Hass zu schüren und einen weiteren Mythos über ukrainische Gräueltaten zu schaffen. Die russischen Propagandisten sind seit zwei Tagen hysterisch und verfluchen uns auf jede erdenkliche Art und Weise."
Deutsche Medien haben den Tod des Jungen nur kurz gemeldet. "Die ukrainische Armee hatte den Vorwurf zurückgewiesen, mit einer Drohne einen Sprengsatz abgeworfen zu haben. Ukrainische Medien berichteten später, der Junge sei durch eine Mine getötet worden", schrieb etwa die Welt.
Dass die ukrainischen Medien diese Theorie nur auf einem Screenshot im russischen sozialen Netzwerk VKontakte basieren, erwähnte die Welt nicht. Die East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes der EU hingegen schon. Auf ihrer Webseite EUversDisinfo ordnete sie die Meldung über den mutmaßlichen Drohnenangriff als Fall russischer "Desinformation" ein. Im Artikel verwies das Portal auf soziale Medien wie auf eine ernst zu nehmende Quelle:
"Widersprüchliche Berichte von Anwohnern (u. a., dass das Kind versehentlich durch die Explosion einer Granate aus den Jahren 2014/2015 starb, als das Dorf an der Frontlinie lag) sind in den sozialen Medien zu finden."
Für weitere Details wurde auf Berichte von The Insider und StopFake verwiesen. Personell ist The Insider eng mit dem NATO-nahen "Enthüllungsnetzwerk" Bellingcat verbunden und liefert regelmäßig Rechercheergebnisse zu den Fällen Nawalny oder Skripal. StopFake ist wie erwähnt eine "befreundete" Organisation der East StratCom Task Force.
Die ukrainische Armee wies die Verantwortung für den Tod des Vierjährigen noch am 4. April entschieden zurück. Die Streitkräfte setzten ihre Waffen niemals gegen Zivilisten oder zivile Objekte ein, sagte ein Armee-Pressesprecher auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur.
Galachow beweist mit seiner Dokumentation, dass diese Behauptung nicht wahr ist. Seine Mitstreiter und er haben dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag über 2.600 Fälle gemeldet, wonach Zivilisten durch das ukrainische Militär getötet oder verwundet worden waren. Bei den Kindern seien es mit Wladik Dmitriew bereits 226 Fälle. Laut der UNO hat der Konflikt mehr als 3.000 zivile Opfer gefordert – hauptsächlich Einwohner im Gebiet der Aufständischen.
Außerdem ist seit Langem bekannt, dass die ukrainische Armee für Spionagezwecke und Angriffe auf Zivilisten und Stellungen der Volksmiliz leichtere Drohnen verwendet, die von einem Operator mithilfe einer Kamera gesteuert werden. Im April 2020 wurden laut dem ukrainischen Nachrichtenportal strana.ua eine 26-jährige Frau bei der Stadt Gorlowka durch eine Drohne getötet und ein 59-jähriger Mann schwer verwundet. Im Juni 2020 meldete das Kommando der Donezker Volksmiliz, dass sie seit Beginn des Jahres 22 ukrainische Drohnen abgeschossen habe.
Die Untersuchungen zum mutmaßlichen Drohnenangriff im Dorf Alexandrowskaja bei Donezk sind noch nicht abgeschlossen. Doch aufgrund der schon jetzt bekannten Fakten und Schilderungen erscheint die Version eines selbst verschuldeten Todes als extrem unglaubwürdig. Nichtsdestotrotz tut der "Faktenchecker"-Dienst der EU in Form der EastStratcom Task Force anderslautende Informationen als "Fake News" und "Desinformation" ab. Mehr noch, er und seine "Netzwerk-Partner" liefern den ukrainischen Medien die Vorlage für ihre Gegenkampagnen, sodass der tragische Tod eines vierjährigen Jungen zum Spielball in einer weiteren Spirale des Propagandakrieges wird. Er müsste aber Warnung und Mahnung sein, die gefährlichen Provokationen so schnell wie möglich zu stoppen und endlich einen politischen Friedensprozess in Gang zu setzen.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - Wer macht Propaganda? "EU-Bericht" über "russische Desinformation" gegen Deutschland existiert nicht
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.