Diskussionen auf dem Balkan: EU lehnt Grenzänderungen strikt ab
Keiner will es geschrieben haben, keiner will dahinterstehen, bis heute ist nicht geklärt, wie ein Papier mit Vorschlägen zu neuen Grenzen auf dem Westbalkan nicht nur in die Medien, sondern offenbar auch nach Brüssel gelangt ist. Zugeschrieben wird das "inoffizielle diplomatische" Dokument dem slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša. Dieser hat bisher jedoch jegliche Urheberschaft dementiert. Nach anfänglich zahlreichen Spekulationen über die Existenz eines solchen Papiers wurde es letztlich auf der slowenischen Internetseite necenzurirano.si veröffentlicht.
Das sogenannte Non-Paper beschreibt penibel Grenzverschiebungen in Südosteuropa nach ethnischen Kriterien. Seit mehr als zwei Wochen sorgt es deshalb für Furore in den Ländern, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen waren. Vor allem in Bosnien-Herzegowina war die Aufregung groß, denn das inoffizielle Dokument sieht eine Zerstückelung des Landes vor. So schlägt das Dokument unter dem Namen "Westbalkan – Der Weg nach vorn" die Lösung "nationaler" Fragen der Serben und Kroaten vor, indem die vor allem von Serben bewohnte Entität Republika Srpska an Serbien angeschlossen werde und jene Teile Bosnien-Herzegowinas, in denen vorwiegend die kroatische Bevölkerung lebt, an Kroatien angegliedert oder den Gebieten zumindest ein Sonderstatus nach Vorbild Südtirols in Italien gewährt werde. Die Bosniaken – die bosnischen Muslime – sollen dem Plan zufolge einen "unabhängig funktionierenden Staat" bekommen. Bei einem Referendum könnten sie dann zwischen einer "EU- oder Nicht-EU (Türkei)-Zukunft" wählen, wird etwa in dem Dokument fabuliert.
In Bosnien-Herzegowina entflammten nach Veröffentlichung des Papiers neue Diskussionen über mögliche Initiatoren des Schriftstücks. In den Kommentaren in den Medien wurde der serbische Präsident Aleksandar Vučić in einem Atemzug mit Russland genannt. Demnach wolle Wladimir Putin seinen Einfluss auf dem Balkan bewahren, "aufgeschreckt" durch die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten. Ein serbischer Politikanalyst ging sogar so weit und behauptete in einer bosnischen Zeitung, Russland müsse aus dem Donbass in der Ukraine raus, wolle aber den serbischen Teil in Bosnien-Herzegowina haben, wo demnach der Einfluss Russlands bewahrt werden soll. Der Vertreter der bosnischen Serben Milorad Dodik gilt als russlandfreundlich und pflegt seit Jahren gute Beziehungen mit Moskau.
Sowohl aus Kroatien als auch aus Serbien kamen Dementis bezüglich jeglicher Beteiligung an dem Dokument. In Belgrad vermutete man gar die kosovo-albanische Seite dahinter, denn das Papier sah auch einen Zusammenschluss der strittigen abtrünnigen serbischen Provinz Kosovo mit Albanien vor. Belgrad erkennt bis heute die 2008 selbst ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo nicht an und lehnte offiziell auch jene in dem Papier vorgeschlagenen Grenzverschiebungen ab.
Viele Analysten haben jedoch von Anfang an darauf verwiesen, dass solche Gedankenspiele ultranationalistischer Kräfte, wer auch immer das Papier verfasst haben soll, nicht nur brandgefährlich seien und neue Kriege bedeuten könnten, sondern auch keine Unterstützung in der internationalen Politik hätten.
Aus Brüssel kam gestern bei einem Besuch des serbischen Präsidenten dann auch eine klare Ansage. Die EU unterstütze uneingeschränkt die territoriale Integrität und Souveränität Bosnien-Herzegowinas sowie der anderen Westbalkan-Länder. Man solle sich auf den konstruktiven Dialog konzentrieren, der nötig sei, um das Land auf seinem europäischen Weg voranzubringen, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Für ihn seien die Grenzverschiebungen auf dem Balkan ein "Nicht-Thema".
Borrell betonte auch, dass er zwar von dem Papier gehört, es aber nie gesehen habe. Auch Vučić sagte am Montag, er habe kein Papier gesehen. Zugleich betonte er, immer für jede Debatte offen zu sein. Derzeit konzentriere man sich jedoch auf wirtschaftlichen Fortschritt und die europäische Beitrittsperspektive. Natürlich unterstütze man auch die Integrität Bosnien-Herzegowinas und der Republika Srpska.
Vergangene Woche hatte auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bei einem Besuch in der Balkanregion eindringlich vor Grenzänderungen in Südosteuropa gewarnt. Auch aus den USA kamen ähnliche Töne. Der russische Außenminister Sergei Lawrow lehnte ebenfalls jüngst jegliche Grenzänderungen in der Region als "inakzeptabel und sehr schädlich" ab.
Während der Debatten gab es auch Kommentare, dass vor allem in Bosnien-Herzegowina die wahrlich politisch brandgefährlichen Ideen und hitzigen Diskussionen darüber der dortigen politischen Eliten jedoch gar nicht so ungelegen kamen. Somit konnte man von den alltäglichen Problemen ablenken, vor allem vom Versagen in der Impfstoffbeschaffung und zuletzt den sprunghaft angestiegenen Corona-Zahlen und Toten im Land. Im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas rückte die Debatte vorübergehend zudem ein anderes Thema in den Hintergrund – die Aufnahme neuer Schulden, um die Liquidität der Entität zu sichern.
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